GERLINDE FERTIG 

Gerlinde Fertigs tektonisch-konstruktive Plastiken sind aus abstrakten, geometrischen Grundformen zusammengefügt. Inspiriert von Vorbildern fremder, vergangener Kulturen Ägyptens, Afrikas und Mexikos hat die Künstlerin eine minimalistische Formensprache entwickelt, die mit den Grundelementen von Vertikale und Horizontale, mit Positiv- und Negativformen, mit Licht, Schatten und Rhythmisierung arbeitet und eine unerschöpfliche Vielzahl an Variationen ermöglicht. Ihr vorrangiges Interesse gilt der menschlichen Figur und ihren Behausungen und der Frage nach dem Verhältnis von Figur und Raum, wobei der Begriff „Raum“ sowohl Innen- als auch Außenräume, physische und psychische Dimensionen umfasst.Schmale, hoch aufragende Stelen von idolhafter Wirkung und archaischer Kraft stehen seit vielen Jahren im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Ohne Anspielungen auf die Proportionen des menschlichen Körpers, ohne raumgreifende Bewegungen seiner Gliedmaßen erscheint Figürliches in diesen Werken zu prägnanten Gestaltzeichen reduziert. Dennoch bleibt der anthropomorphe Charakter der Stelen immer spürbar: Trotz ihres hohen Abstraktionsgrades und ihrer würdevollen Distanz stellen sich beim Betrachten der Plastiken unweigerlich Assoziationen an die menschliche Gestalt, ja sogar an innere Stimmungen ein – jeder Stele ist ein spezifischer, individueller Ausdruck eigen. Für die Realisierung ihrer Arbeiten bevorzugt Gerlinde Fertig gebeiztes und gewachstes Holz. Die meist durchscheinenden Oberflächen lassen die Struktur der Maserung sichtbar und verweisen so auf die organische Lebendigkeit dieses Werkstoffs, der seit Urzeiten Teil der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen ist. Die Bildhauerei stellt, wie Gerlinde Fertig selbst sagt, das Zentrum ihres Schaffens dar. Die fotografischen Arbeiten stehen jedoch ebenbürtig daneben. Sie umkreisen – unter veränderten Vorzeichen – die gleiche Thematik wie die Plastiken, allerdings kommt hier noch ein weiteres Element hinzu: das geradezu surrealistische Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen, das in ungewohnte Bildwelten entführt. Ausgangspunkt sind fotografische Aufnahmen u.a. von Stadtlandschaften, Architekturen, oft auch von Gebäuden, die dem Verfall und Abriss preisgegeben sind. Durch die digitale Bearbeitung verfremdet Gerlinde Fertig die fotografierten Realitätsfragmente in vielerlei Hinsicht, sie werden miteinander kombiniert, collagiert und mit eigenwilligen Farbkontrasten gleichsam energetisch aufgeladen. Auf diese Weise entstehen völlig neue, komplexe, geheimnisvolle Bilder von ausgesprochen malerischem Charakter – Metamorphosen von hoher Suggestionskraft an der Grenzlinie zwischen Realität und Imagination.

Ursula Merkel